Es gibt viele verschiedene Möglichkeiten, den Begriff „Oju-ona“ aus der Yoruba-Sprache zu übersetzen und zu interpretieren: „Pfad des Auges“ oder „Wege des Sehens“ sind nur zwei davon. Einigkeit aber herrscht bei Ethnologen und Kunstexperten darüber, dass Olowe von Ise (ca. 1873–1938) der Meister und Erneuerer des Oju-ona Stils im 20. Jahrhundert ist. Wie kein zweiter vor und kein zweiter nach ihm beherrschte der in Efon-Alaaye im heutigen Nigeria geborene Yoruba-Bildhauer die Kunst, das Auge des Betrachters kraft seiner Werke auf die Reise zu schicken. Eine geistige Reise, die Eingeweihte von der einfachen Wahrnehmung über die Interpretation bis hin zu höherer Erkenntnis führen kann – auch das ist „Oju-ona“.
Schon zu Lebzeiten genoss Olowe höchste Anerkennung. Als Botenjunge an den Hof des Königs von Ise gekommen, hatte er dort wohl im Alter von etwa 15 Jahren das Holzbildhauen erlernt. Auf dieser Grundlage entwickelte er den innerhalb der Region und Volksgruppe traditionellen Ekìtì-Stil derart beeindruckend weiter, dass ihn die hohen Würdenträger im Umkreis von bis zu 100 km mit der Ausstattung ihrer Repräsentationsbauten beauftragten. Lobeshymnen, oriki, wurden auf Olowe gedichtet, und sein Talent bescherte dem Bildhauer einen so reichen Auftragssegen, dass er in seiner Werkstatt etwa 15 Mitarbeiter beschäftigen konnte.
Olowes Palasttore und Herrscherthrone, Verandapfosten und Kultfiguren, persönliche und rituelle Gegenstände begeistern nicht nur mit ihrer handwerklichen Qualität, sondern auch mit einer Innovationsfreude, die ihresgleichen sucht.
Zwar entsprechen die Figuren, die Olowes Schnitzwerke bevölkern, überlieferten Vorbildern, und auch die Symbolik, die jedem noch so kleinen Detail innewohnt, ist fester Bestandteil der Yoruba-Kultur und für Eingeweihte interpretierbar. Seine dynamische, lebendige und individuelle Ausführung geht aber weit über das Traditionelle hinaus.
Virtuos weiß er, Licht und Schatten, konvexe und konkave Formen, Materialität und Transparenz zu nutzen, sodass seine Skulpturen ein Eigenleben entwickeln können. Posen und Gesten, Frisuren und Accessoires sind abwechslungsreich, Drehungen von Körper und Kopf wirken häufig fast tänzerisch und unterscheiden sich auf diese Weise deutlich von den statischen Figuren anderer Yoruba-Künstler. Zusätzlich sorgte die farbige Fassung, oft nur noch in Resten erhalten, für Lebendigkeit. Ähnlich beeindruckend muss der Effekt auf die Betrachter gewesen sein, als der Barock mit seinen dramatisch inszenierten Heiligendarstellungen in Italien Einzug hielt…
Olowes außergewöhnliches Werk blieb auch den britischen Kolonialherren nicht verborgen. So kam es, dass eine geschnitzte Palasttüre des Königs von Ikere anlässlich der British Empire Exhibition 1924 den Weg nach London fand und anschließend vom British Museum erworben wurde. Gleich einer Chronik eröffnen sich auf den Türflügeln insgesamt zehn lebendige Szenen, wobei Olowe das Relief im wahrsten Sinne des Wortes so herausragend bearbeitete, dass manche Figuren geradezu aus dem Rahmen auszubrechen scheinen. Begeistert beschrieben die Organisatoren die Tür als „feinstes Stück westafrikanischer Schnitzerei, das jemals England erreicht hat.“* Kein Wunder, dass dieses Punkstück den Künstler schließlich weit über den afrikanischen Kontinent hinaus berühmt machen sollte.
Heute sind Olowe von Ises Werke in bedeutenden Museen weltweit zu finden. Sie sind die materiellen Zeugnisse eines einzigartigen Talents, das handwerkliche Exzellenz, Traditionsbewusstsein und Experimentierfreude, Kreativität und Originalität vereinte – große Kunst, die über Raum und Zeit Bestand haben und kreativ fortgeführt wird: Olowes Arbeiten inspirieren bis heute bildende Künstler, indem sie das Erbe der Yoruba-Kultur lebendig halten und zu einer vertieften Auseinandersetzung mit afrikanischer Identität, Geschichte und Spiritualität anregen.
*Müller Claudius (Hrsg.): Weiter als der Horizont, München 2008, S. 33.
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